Der letzte Rebell des Fußballs

HENRI RIPPL durchlebte in der Landesklasse-Saison 2013/14 wenige Höhepunkte. Warum er von dieser Spielzeit seinen Enkelkindern berichten wird und von nun an mit Günther Netzer, Eric Cantona und George Best gleichzustellen ist, verdankt er einer belangslosen Einwechslung. 


Es war die Entscheidung einer Sekunde. Gerade war Henri Rippl von Gebesees Co-Trainer Maik Högler im Spiel gegen Büßleben eingewechselt wurden, da passte ihm einer seiner Mitspieler den Ball vor die Füße. Rippl, mit dem Rücken zum gegnerischen Tor, drehte sich kurzentschlossen und mit rund 40 Metern Torentfernung um, nahm drei Schritte Anlauf und schoss das wohl schönste Tor der letzten und nächsten 50 Jahre. 
Was inmitten des anschließenden Jubels beinahe völlig unterging, war die Tatsache, dass selbst Spieler und Fans des Gegners völlig erstaunt von diesem ungewöhnlichen Fußballspieler waren. Denn Henri Rippl hatte mit seiner Aktion eine knallharte Regel des modernen Fußballs gebrochen. Anstatt wohlüberlegt den Ball in ein Halbfeld oder zum nächsten Mann zu spielen, entschied sich der 21-Jährige für eine Variante, die rational nicht zu begründen ist. Und das zu einer Zeit in der selbst Kreisliga-Teams versuchen, Taktiken von Nationalmannschaften zu immitieren, um nichts dem Zufall zu überlassen - natürlich meist vergeblich. 
Gleichwohl: Die meisten rebellischen Taten, wie die von Henri Rippl, sind, von außen und nüchtern und ohne den verklärenden Blick des Fußballfans betrachtet, eher salonrevolutionäre Aktionen. Anders formuliert: Jeder mittelmäßige Tischtennis-Spieler könnte ebenso in seiner Sportart für ein solches Novum sorgen wie der Gebeseer. 

Warum also Querköpfe und Lebemänner wie Eric Cantona, Brian Clough, Günther Netzer oder vielleicht auch Henri Rippl die Fußball-Welt faszinieren, wird nur vor dem Hintergrund klar, dass der weltweit populärste Mannschaftssport von seinen Aktivisten einen Korpsgeist einfordert, den man sonst nur noch in der militärischen Grundausbildung findet. Wer heute junge Spieler vor Mikrofonen stehen sieht und ängstlich verkünden hört, allein der Erfolg der Mannschaft sei wichtig, der ahnt bereits, dass ein Fußball-Team nur noch bedingt der geeignete Ort für Selbstverwirklichung ist.
Schon früher erfreuten sich jene, die auf dem Platz zeigten, dass sie ihr Hirn nicht folgsam an der Kabinentür abgegeben hatten, großer Beliebtheit. Netzers tollkühne Selbsteinwechslung im DFB-Pokal Finale 1973 etwa markierte den Abschied von der halbgottartigen Stellung, die zuvor die Bundesligatrainer innehatten und auch heute nichts von ihrer anarchisten Kraft verloren hat. Man stelle sich nur eine solche Szene mit, sagen wir mal, Toni Kroos und Joachim Löw vor. Und George Bests exzessive Feierei mit Drinks und Verehrerinnen en gros war zwar kein Akt der bewussten Rebellion, aber eben doch eine schallende Ohrfeige für all die kleinmütigen Spießer, die Obst, Gemüse und frühe Bettruhe als unabdingbare Voraussetzung für großen Fußball postulierten.
Die Sehnsucht nach Rebellen auf dem Platz ist seit dieser Zeit nocheinmal größer geworden. Es begann eine Zeit in der Klubs versuchten, den Fußball-Samstag möglich planbar zu machen. Eine Zeit in der der Fußball zum milliarden-schweren Hochglanzprodukt fürs Breitwandfernsehen avancierte. Und so sehr die Fans seither darum kämpfen, nicht nur brav auf den Schalensitzen zu hocken, so sehnsuchtsvoll suchen sie nach Persönlichkeiten, die sich auf dem Spielfeld gegen die Gleichförmigkeit stemmen. Persönlichkeiten die ihren Humor behalten in einer Gesellschaft, die beim Fußball partout keinen Spaß versteht. 

Wer im Jahre 2014 nach Rebellen sucht, wird sich schwer tun. Es ist das Wissen um den grotesken medialen Widerhall, der die Fußballer verstummen lässt. Ein Sportler von heute weiß, dass er für jede Aktion auf dem Platz und jede Äußerung, so sie auch nur ansatzweise das Potential für eine Kontrverse birgt, sofort an den Pranger gestellt wird. Schon um der lieben Ruhe willen. Wenn heute einer kurz vor Spielende einen Elfmeter vergibt, weil er den Ball in Andenken an Antonin Panenka ins Tor lupfen will, anstatt ihn humorlos in den Kasten zu dreschen, wird als arroganter Volltrottel geschmäht. Rebellion: gerne. Herausragende Leistung: Voraussetzung.
Keine allzu gute Bedingungen also für Freigeister wie Henri Rippl, die in jeder zweiten Partie aus unmöglichen Distanzen versuchen, Tore zu schießen. Dabei könnte der Fußball sie gut gebrauchen. Nicht, um sich zu revolutionieren. Sondern, um so zu bleiben, wie er ist.